Theaterpädagogik in der Lehrerausbildung |
Jürgen Mack Theaterpädagogik
in der Lehrerausbildung "Wer
im sozialen, im kreativ-gestalterischen Bereich oder beim
kritisch-reflektierenden Verstehen die Erfahrung von Kompetenz macht, kann
sich selbst als Gestalter des eigenen Lebens wahrnehmen und seine Lebenswelt
als Lerngelegenheit und Herausforderung. Von entscheidender Bedeutung scheint
bei dieser Transformation von Ohnmachtsgefühlen die Anerkennung durch andere
zu sein."[1] Theaterspiel (und auch die
Zirkuspädagogik) erfordert u.a. Teamarbeit, Verlässlichkeit, Präsenz,
Konzentration, Verantwortung, Ausdauer und Empathiefähigkeit. Als Preis winkt
die Anerkennung durch andere und somit eine Steigerung des Selbstwertes.
Theater bietet den Raum mit Hilfe des Spieles Situationen zu erkunden, sich
selbst zu beobachten, sich auszuprobieren, verstehen zu lernen und nach Lösungen
und Auswegen zu suchen. "Im ästhetischen Raum kann man (da) sein, ohne
zu existieren. Tote werden lebendig, die Vergangenheit wird gegenwärtig, die
Zukunft ist heute, die Dauer wird von der Zeit losgelöst, alles ist möglich
im Hier und Jetzt, die Fiktion wird zur Realität und die Realität zur
Fiktion. ... Der ästhetische Raum besitzt die selbe Plastizität oder
Gestaltungskraft wie der Traum. ... Deshalb können wir im Theater konkrete Träume
haben."[2] Unterricht
ist Szene Auch
das Klassenzimmer ist ein solcher ästhetischer Raum. Auch hier finden tägliche Inszenierungen
statt. Jürgen Belgrad formulierte die These, dass Pädagogik und Theater
Kunstformen von Interaktion und Kommunikation darstellen und Szenen deren
Bausteine sind.[3]
Die Figurationen dieser Szenen bestehen aus Handlungen, Erlebnissen und
Lebenswelten, in deren Spannungsfeldern sich
die Verstehens- und Gestaltungsprozesse abspielen. Herausragendes Merkmal der
Szene ist, dass sie beobachtet werden kann, dass ihre Handlungsträger diesen
Beobachtungsmechanismen unterliegen und sich selbst in ihren szenischen
Handlungen beobachten können. Auch Unterricht ist
Szene und unterliegt den Gesetzmäßigkeiten von Interaktion und
theatraler Inszenierung. Die Szene "Unterricht" lässt sich
beobachten, analysieren, reflektieren und damit auch verändern. "Ein
Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles was
zur Theaterhandlung notwendig ist."[4]
Augusto Boal nennt dieses Verhältnis zwischen Handelndem und
Beobachter den "ästhetischen Raum"[5],
wobei auch der Handelnde selbst zum Beobachter seiner Handlungen werden kann.
Für Boal ist das die "Essenz des Theaters: im Menschen, der Mensch, der
sich selbst beobachtet. Der Mensch "macht"
nicht nur Theater, er "ist"
auch gleichzeitig Theater. ... Theater - oder Theatralik - ist die menschliche
Fähigkeit, sich selbst im Handeln zu betrachten. Die Selbsterkenntnis, die
der Mensch auf diesem Weg erwirbt, erlaubt ihm, beobachtendes Subjekt eines
anderen, handelnden Subjektes zu sein. Sie erlaubt ihm, sich Variationen
seines Handelns vorzustellen und Alternativen zu erproben."[6]
Die theaterpädagogischen Methoden zur Erforschung des ästhetischen
Raumes "Theater" eignen sich somit auch zur Beobachtung und
Erforschung des ästhetischen Raumes „Klassenzimmer", zur Wahrnehmung
der Interaktionsprozesse im Unterricht, zur Selbstbeobachtung und damit für
einen Erkenntnisweg zur Selbstbeobachtung und zur Erprobung alternativer
Handlungsweisen. Welche
Muster stehen hinter unseren Verhaltensweisen, welche Haltungen drücken sich
in unseren sprachlichen und körpersprachlichen Formen aus, welchen Habitus
legen wir an den Tag? Wie begegnen wir einander und welche Statusbestimmungen
vollziehen wir dabei? "Jede
Sprachsituation fungiert als Markt, auf der etwas getauscht wird. Dieses Etwas
sind natürlich Worte, aber diese Worte sind keineswegs nur dazu da,
verstanden zu werden. Das Kommunikationsverhältnis ist
... auch ein ökonomisches Verhältnis, bei dem es um den Wert dessen
geht, der spricht: Hat er gut gesprochen? Hat er schlecht gesprochen? Ist er
brillant? Ist er nicht brillant? Kann man ihn heiraten? Kann man ihn nicht
heiraten?"[7]
Auf Schule bezogen bedeutet das, aus wechselnden
Perspektiven formuliert: Nehmen wir die Lehrerin ernst? Glauben wir dem Schüler?
Erkennen wir den Lehrer an? Wie verschaffen wir uns die nötige Aufmerksamkeit
in unserem Kollegium? Welche Rollen nehmen wir im Kreis der Mitschüler ein?
Wie wirke ich? Bin ich dabei authentisch? Die Fragestellungen gelten auf allen
"Bühnen" der Szenerie Unterricht: zwischen Lehrern und Schülern,
zwischen Schülern, zwischen Schülern und Eltern, zwischen Lehrern und
Eltern, zwischen Lehrern, zwischen Lehrern und Schulleitung, um nur einige
zentrale Ebenen dabei zu nennen. Theaterpädagogik
ermöglicht eine handelnde Auseinandersetzung mit zentralen Fragestellungen
des Lehrberufs, indem sie diesen selbst zum Inhalt ihre Arbeit macht. Es geht
um ein spielendes Erkunden von Möglichkeiten, eine Suche nach Antworten auf
Fragen, die helfen, sich seines Selbst bewusster zu werden: ·
Welche
Erkenntniswege eröffnen theaterpädagogische Methoden für die Gestaltung von
Unterricht? ·
Wie
ermöglichen theaterpädagogischen Methoden Erkenntnisse auf den Ebenen der
Kommunikation und Interaktion? ·
Welche
theatralen Determinanten bestimmen unterrichtliches Geschehen? ·
Welche
Mechanismen und Muster stehen hinter bestimmten Verhaltensdispositionen? ·
Welche
Rolle "spielt" der Raum in unseren Interaktionen? Wem "gehört"
der Raum, welche Funktion hat der Raum in unseren Statusdefinitionen? ·
Wie
können angehende Lehrer/innen in ihrer Selbstwahrnehmung gestärkt werden? ·
Lassen
sich alternative Verhaltensmöglichkeiten in prekären Situationen
ausprobieren? ·
Welche
Wünsche, Utopien und Träume bewegen uns? ·
Warum
sind wir enttäuscht, wenn die Wirklicht nicht so ist, wie wir sie gerne hätten? ·
Wie
erleben wir diese Enttäuschung und welche Möglichkeiten haben wir, damit
umzugehen? ·
Wie
nehmen wir uns selbst wahr? ·
Wie
reagieren andere auf mich und ich auf andere? ·
Wie
nehmen wir unseren eigenen Körper, unsere Befindlichkeit und unsere Gefühle
wahr? Die
Verbindung von Tanz und Kampfsport erschließt
noch weitere Ebenen dieses Weges zur Stärkung des Ichs und des "Erkenne
dich selbst". Intensiviert wird die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper,
Bewegung und Rhythmus führen zu Konzentration und Kontemplation, zu einem
Ganz-bei -sich-selbst- Sein, Spannung und Entspannung wechseln einander
ab und bleiben nicht ohne Auswirkung auf unser Wohlbefinden, Partnerschaft und
Respekt vor anderen ist zentraler Bestandteil der Arbeit, Kraft und Aggression
wird bewusst erlebbar und in einen schöpferischen Prozess umgesetzt. Nicht
selten gelingt es mittels dieser Erfahrungen
Konflikte zu thematisieren und über Ängste und Gefühle zu reden.[8]
In
der Chance dieses sich Ausprobierens als Weg zur Selbsterkenntnis liegen
aber auch Gefahren, die in einem solchen Ausbildungsgang erfahren
werden müssen, damit sie in das Blickfeld des Bewusstseins gerückt werden: ·
Wo
fängt Therapie an und wie erkenne ich Grenzen des Spiels? ·
Wo
sind die Grenzen meiner persönlichen Fähigkeiten als Spielleiter/in? Ziel
ist dabei ja nicht nur die Stärkung der Rolle als angehende Lehrerin, die
Teilnehmer sollen selbst zu Spielleitern ausgebildet werden. Dabei sind
noch zwei weitere Punkte von zentraler Bedeutung: ·
der
Umgang mit dem Fehler.
In der Schule sind Fehler verpönt, man schämt sich, kaschiert oder vertuscht
Fehler, ja nicht auffallen beim Fehler machen heißt das Prinzip. Fehler schwächen
uns, ist die Botschaft. Anders in unserem Verständnis von Theaterarbeit:
Fehler sind oftmals gar keine falschen Handlungen, sondern zeigen andere Möglichkeiten.
Fehler können auch eine Chance sein zu erkennen, was und wie wir etwas falsch
gemacht haben oder wie wir etwas besser machen können. Solche Erkenntnisse
setzen das Fehler machen geradezu voraus.
Pia André, die Neuen Tanz und Kampfsport in diesem Projekt lehrt,
spricht vom Innehalten als das Mittel, innere Freiheit zu üben. "Statt
automatisiert aus Gewohnheit auf einen Input zu reagieren, sage ich
"Stop!", entscheide mich für eine neue Möglichkeit und habe
dadurch die Fähigkeit, zu wählen. Statt
mich von meinen Gewohnheiten bestimmen zu lassen, erweitere ich meine Möglichkeiten.
So entsteht Freiheit. Wir lernen etwas Neues, erarbeiten die Gedanken, die uns
am Lernen hindern (z.B. „ich muss perfekt sein“, "ich weiß schon
alles (besser)“, "ich darf mir keine Schwäche erlauben“, etc.).
Indem ich mir Fehler erlaube, lerne ich schneller und besser, komme schneller
und leichter an mein Ziel. Das Lernen beginnt sogar Spaß zu machen, wenn ich
mir für jeden Fehler ein Lächeln schenke."[9] ·
Lehrende
sind immer auch Lernende,
machen Fehler, lernen daraus, gewinnen aus den Prozessen, die sie mit ihren
Impulsen in Gang gesetzt haben Erkenntnisse, die zum Ausgangspunkt der
weiteren Arbeit werden. Theaterpädagogik in diesem Verständnis bedeutet
nicht die Realisierung eines vorgedachten Regiekonzeptes, ist nicht die
Umsetzung eines Bildes, das der Spielleiter im Kopf hat und dem die
Teilnehmer/innen möglichst nahe kommen sollen. Theaterpädagogik bedeutet für
uns Wahrnehmen, Aufnehmen, Weitergeben, Annehmen oder auch Verwerfen. Eine
Gruppe macht sich auf den Weg und alle sind an der Gestaltung des Prozesses
und des Produktes beteiligt. Das klingt vielleicht idealistisch und
harmonisch. In Wirklichkeit bedeutet es, jede Menge Konflikte auszutragen,
nach Lösungen zu suchen und deren Tragfähigkeit zu erproben.
[1] Holzbrecher a.a.O. S. 19 [2]
Boal, Augusto
a.a.O. S.31 [3] Belgrad, Jürgen Theater & Pädagogik. Überlegungen zur Vermittlung des Theater-Spiels. In: Belgrad, Jürgen (Hrsg) TheaterSpiel. Ästhetik des Schul- und Amateurtheaters. Baltmannsweiler 1997 S. 106ff [4] Brook, Peter Der leere Raum. Berlin 1983 S.9 [5] Boal, Augusto Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Seelze 1999 S. 28ff [6] ders. a.a.O.S. 24 [7] Pierre Bourdieu Soziologische Fragen. Frankfurt 1993 suhrkamp tb. Darin insbesonders: Was sprechen heißt, S.91ff und Der sprachliche Markt, S. 115ff Bourdieu verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des "Habitus" in einem ähnlichen Zusammenhang, wie Brecht diesen bzgl Schauspielkunst und des alltäglichen Theaters versteht. [8] Norbert Rixius kommt zu ganz ähnlichen Erkenntnissen im Zusammenhang mit Kampfsport und Meditation. Rixius, Norbert Kampfsport, Meditation und Theaterarbeit. In: Hurrelmann, Rixius, u.a. a.a.O. S. 117ff [9] Pia André Neuer Tanz und Stockkampf. Seminarbegleitendes Skript zu diesem Grundkurs. Meckenbeuren 2001 S. 9f |
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